• MELOS
  • Ein Versuch über das Wirkungssingen
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  • Der folgende Text stammt von einem Musiker. In seinen Gedankengängen erfüllt er mehr die Maßstäbe künstlerisch-praktischer als wissenschaftlicher überprüfbarkeit. Er entstand aus dem Unbehagen über die fast totale Präsenz der hochtechnisierten Zivilisation in allen Lebensbereichen mit ihren Kriterien der Standardisierung, Vernetzung, Verdinglichung, Verfügbarkeit und Informations- und Gewinnmaximierung. Er fußt auf dem schmerzlichen Erleben des Defizits anderer, vielleicht erst vage erahnter Kriterien. Dieser Text kann sich nicht anmaßen, einen Lösungsvorschlag für den oben angesprochenen, riesigen Gesamtkomplex an Problemen vorstellen zu können; wohl aber bietet er Anregungen für den Bereich unseres Lebens, in dem Musik eine Rolle spielt oder eine Rolle spielen könnte.
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  • Allgemeines
  • Dass Musik eine Wirkung ausübt, gilt als Binsenweisheit. Mit "Wirkungssingen" ist ein Gesang gemeint, der entweder eine Wirkung auf Ausführende und Zuhörer induziert oder als Folge einer Wirkung von außen auf den Sänger selbst entsteht. Die Wirkung ist körperlich - mental. Sie kann sich als Erleben von Kraft, Leichtigkeit, Wärme, Gefährlichkeit, Liebe, Mut etc. äußern. Wirkungsgesänge sind generell nur in einer Disposition der größtmöglichen Offenheit aller Sinne und Selbstvergessenheit möglich. Eine Haltung der Absichtshaftigkeit und Selbstreflexion ist dabei kontraproduktiv. Nicht: "Ich singe.", sondern: "Es singt aus mir." Der so entstehende Gesang ist weniger persönlich als vielmehr überpersönlich. Er ist möglichst frei von bekenntnishaften Darstellungen der eigenen Befindlichkeit. Die ins Werkhafte gebrachte Darstellung menschlicher Affekte als Ausdrucksfacetten persönlicher Befindlichkeiten ist eines der ausgeprägtesten Kennzeichen der Musik des sog. bürgerlichen Zeitalters. Damit verbunden ist ein stark gestisch-architektonischer Habitus der europäischen Kunstmusik. Demgegenüber stellen Wirkungsgesänge nichts dar, sie sind einfach da.
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  • Der lebendige Raum
  • Wirkungsgesänge entstehen angesichts eines oder mehrerer wesenhafter Gegenüber. Das kann Mensch, Tier, Pflanze, Gewässer, Berg, Sonne, Mond etc. sein. Der singende Mensch ist dabei Teil der ihn umgebenden Natur; er singt nicht abgelöst von ihr über sie, sondern eingebettet in sie, an sie, durch sie. Das äußert sich auch in der Art der Körperlichkeit und Fortbewegung des Menschen in der Natur. Einen geschlossenen, leeren Raum durchquert man anderes als einen, in dem sich etwa sandere Menschen befinden. Die Anwesenheit von Menschen und anderen Wesenheiten disponiert körperlich-mental. Wirkungsgesänge finden nicht in leeren Räumen statt. In der Natur gibt es keinen wirklich leeren Raum.
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  • Tönen Singen
  • Grundlage des Wirkungssingens ist weniger das Tönen, als vielmehr das echte Singen. Tönen erfolgt im Affekt des Sprechens. Beim Sprechen semantischer Gebilde wie Worten und Sätzen werden im Kehlkopf unwillkürlich Tonhöhen gebildet, die den Wortakzent, die Satzmelodie oder auch die Eindrücklichkeit des Gesagten auf psychologisch - akustischer Ebene unterstützen. Musikalisch gesehen sind diese Tonhöhen erstaunlich frei von Elementen der Tonalität, Diatonik oder Pentatonik. Selbst vollkommene Intervalle wie Oktave und Quinte treten scheinbar nur zufällig auf. Durch das Weglassen oder Fehlen des semantischen Anteils bzw. das Ersetzen desselben durch sinnfreie Silben (Gibberisch) entsteht ein Tönen, das bei entsprechender Disposition sehr intensiv sein kann.
    Im Gegensatz dazu kommen beim Singen erzeugte Schwingungen aus einer musikalisch orientierten Haltung. Das kann Folge einer klassischen Einstudierungsarbeit sein. Beim Wirkungssingen entstehen bei entsprechend absichtsloser Disposition melodische Folgen, die meist aus nur wenigen Tonhöhen, d.h. Ausschnitten aus Tonleitern oder pentatonischen Gebilden bestehen, die meist unverändert wiederholt werden oder sich im Laufe des Gesanges dem Text entsprechend leicht ändern. Die Intensität des Gesanges entfaltet sich dabei weniger auf einer sprachlich - psychischen Ebene, als auf einer musikalisch - melodischen.
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  • Endogene und exogene Zeiterfahrung
  • Anders als die herkömmliche, abendländische Musik spätestens seit dem 17. Jahrhundert werden Wirkungsgesänge nicht als exogene, sondern als endogene Zeiterfahrung erlebt. Das sei kurz an Hand einer Metapher erläutert, in der die Dimension Zeit als riesiger, sehr breiter, ruhig strömender Fluss gedacht wird, in dessen Mitte ein Boot schwimmt, in dem ein Mensch vulgo Sänger/Zuhörer sitzt, der von seiner Position aus die Ufer des Stromes nur noch vage wahrnehmen kann. In der Nähe des Bootes treibt ein Baumstamm, in unserer Metapher das Objekt der musikalischen Wahrnehmung. Der Mensch im Boot kann anhand seiner Position zum Baumstamm wenig Auskunft über die Strömungsgeschwindigkeit geben. Er merkt nur, dass sich durch die ständige, leichte Auf- und Abwärtsbewegung der Wasseroberfläche die Lage des Baumstammes ganz leicht verändert. Das entspricht der endogenen Zeiterfahrung. Im zweiten Fall steht der Mensch am Ufer und sieht das Wasser des Flusses langsam vorbeifließen. Er kann die Fließbewegung des Wassers erkennen und dann, etwas in der Ferne, einen erst näher kommenden und sich flussabwärts entfernenden Baumstamm. Will der Mensch den Baumstamm nicht aus den Augen verlieren, muss er jetzt ein Stück flussabwärts laufen, den Baumstamm überholen und dann wieder stehen bleiben, um ihn zu betrachten. Das entspricht der exogenen Zeiterfahrung. In der exogenen Zeiterfahrung steigt man vermittels eines kleinen Tricks aus dem Zeitkontinuum aus, bleibt kurz stehen, macht in der Zeit einen Sprung nach vorn und steigt wieder in das Zeitkontinuum ein. Physikalisch ist das natürlich unmöglich, mental aber schon. Dieser Trick ist Basis für das Verstehen der abendländischen Kunstmusik seit der Renaissance. Das sei kurz am Beispiel des bekannten Kinderliedchens "Hänschen klein" erläutert. Das Lied steht im Vierertakt. Jeder einzelne Takt hat vier Schläge mit vier ganz verschiedenen Qualitäten: schwer, leicht, halbschwer und auftaktig. Als eine Art Raster ist ein Takt an den nächsten gereiht und darüber ist die Melodie ausgespannt. Beim Singen oder Hören ist dieses Raster ständig in mir präsent. So kann ich anhand der verschiedenen Qualitäten der Schläge jederzeit erkennen, wo im Takt ich mich befinde, ohne von Beginn an mitzählen zu müssen. Das heißt aber auch, dass ich jederzeit mental aus- und wieder einsteigen bzw. die Konzentration auf etwas anderes lenken kann. Ich finde mich dennoch mühelos zurecht. Das gilt aber nicht nur für die Standortbestimmung innerhalb eines Taktes, sondern auch für größere Zeiteinheiten in diesem Fall von je vier Takten, innerhalb derer ich mich jederzeit zeitlich orten kann; es gilt sogar für das Lied als Ganzes. Schon während des Mittelteiles ist mir klar, dass jetzt nach so und so vielen Schlägen oder Takten der Schlussteil folgen wird. Wenn er tatsächlich kommt, fühle ich mich bestätigt; kommt er nicht, bin ich erst überrascht und dann daran interessiert, wie geistreich diese überraschung gemacht ist. In unserem Fall tritt die überraschung nicht ein, es handelt sich ja nur um ein ziemlich einfaches Klischee eines Kinderliedes. Gehobene Kunstmusik hingegen ist immer gespickt voll mit derlei geistreichen Spielchen. Ich kann also ziemlich oft und ergiebig mental aus dem Zeitfluss aussteigen und in der "Zwischenzeit" die Aufmerksamkeit über die Musik, die bisher erklungen ist, wandern lassen. Generell aber ist dieses ständige Heraustreten aus dem Zeitkontinuum, währenddessen ich den eben gehörten Abschnitt, wie groß auch immer, quasi in Klammern oder als Tableau betrachte, um danach wieder in die Zeit einzusteigen, das Prinzip, das das Verständnis der musikalischen Klein- und Großarchitektur erst ermöglicht. Im Kleinen beginnt das etwa in der lustvoll gezielten Verfehlung des Taktschlages als "break" in der Jazzmusik und reicht hin bis zu dem Vergnügen, am Ende eines Sonatensatzes einer klassischen Symphonie das zweite Thema anhand der dafür nötigen Kriterien erkennen zu können. Soweit zur exogenen Zeiterfahrung. Beim Wirkungssingen ist es anders. Der Sänger ist derjenige, der im Boot sitzend auf dem Fluss schwimmt und nicht ständig mit Hilfe eines Tricks auf Distanz zum Medium Zeit geht. Er kann infolgedessen auch keine musikalische Form erkennen. Beim Singen setzt er einfach eine Text- und Musikeinheit an die nächste. Das tut er solange, bis er fertig ist. Was er währenddessen an ekstatischer Steigerung erfährt, ist ihm eventuell gar nicht bewusst. Diese Steigerung ist auch nicht im Sinne einer musikalischen Architektur eingesetzt. Das ständige Verhaftet - Sein im Zeitkontinuum ermöglicht es ihm, in seiner Konzentration immer ganz bei der Sache zu bleiben und die Trance, wenn sie denn kommt, geschehen zu lassen. In Ekstase oder Trance kann er den formalen Ablauf und die Schönheit einer Melodie nicht wahrnehmen. Im besten Fall wird er sich nach dem Singen an das, was er gesungen hat, gar nicht erinnern können.
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  • Vage und fokussierte Aufmerksamkeit
  • Die Anforderungen, die die moderne Lebenswelt an uns stellt, sind nicht immer leicht. Oft kann man sie nur erfüllen, indem man sich entsprechend disponiert. Dazu gehört die Fähigkeit des modernen Menschen, die Aufmerksamkeit fokussieren zu können. Ein Auto zu lenken ist nur möglich, wenn die optische Aufmerksamkeit auf das Zentrum des Gesichtsfeldes gerichtet ist und die mentale Aufmerksamkeit sich möglichst ganz dem Geschehen im Straßenverkehr widmet. Wohlgemerkt ist Fokussieren nicht identisch mit Konzentrieren, sondern hat mit der punktuellen Einengung der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Sujet zu tun. Konzentration ist auch bei der anderen Art der Aufmerksamkeit nötig, der vagen. Ein Beispiel: Wenn ich in den Wald gehe, um Pilze zu sammeln, ist es nicht sehr dienlich, wenn ich den Waldboden systematisch oder auch unregelmäßig mit einem fokussierten Blick abtaste, darin einem Laserstrahl ähnlich. Auf diese Weise werde ich, von Zufallsfunden abgesehen, nur wenige Pilze finden. Habe ich den Blick jedoch auf "weit" gestellt und konzentriere mich auf alles, was im Blickfeld ist, habe ich also eine Blickeinstellung, die vage ist, werde ich viel eher fündig als mit der anderen Methode.
    Dieses Prinzip ist jedoch nicht nur im optischen Bereich anwendbar, sondern auch im akustischen. Höre ich im Studio eine Aufnahme auf Fehler und technische Unzulänglichkeiten ab, ist meine Wahrnehmung streng fokussiert. Dasselbe passiert beim Dirigat einer komplexen Partitur Neuer Musik. Da ist vages Hören nicht angesagt. Das ist jedoch bei einer klassischen Symphonie anders. Da habe ich durchaus Möglichkeiten einer vagen Aufmerksamkeit, die ein ganz anderes Musikerleben ermöglicht.
    ähnlich verhält es sich mit Melos-orientierten Gesängen. Bin ich akustisch-musikalisch vage disponiert, mache ich Funde, die authentische Kraft haben. Mit der fokussierten Wahrnehmung ist das nicht möglich; wenn überhaupt vorhanden, ist den melodischen Ergebnissen die Absicht des Finders anzumerken und sie sind schwach. Melos kommt aus einer vagen Gehörsdisposition.
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  • Wirkungsgesänge
  • Folgende Arten von Wirkungsgesängen sind möglich:
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  • Kontaktgesänge:
  • Die Stimme fungiert als Sonde, die ein Gegenüber ertastet, abtastet. Die Stimme wird so zum Wahrnehmungsorgan. Anders als beim körperlichen Kontakt gibt es dabei einen nur mental erlebbaren, Kontaktpunkt, an dem sich ein Umkehrmoment ereignet: man berührt aktiv und wird passiv berührt. Durch den Gesang wird der Kontakt erlebt. Im Laufe des Singens verstärkt er sich vielleicht noch. ähnlich wie beim Körperkontakt ist auch das Kontaktsingen von intensiven Gefühlen begleitet.
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  • Resonanzgesänge:
  • Der Singende ist gleichsam der Resonanzkörper, der durch die Anwesenheit eines Partners zum Klingen gebracht wird. Der Gesang kann sich zu einem echten Resonanzfall als völlige Gleichschwingung mit dem Gegenüber intensivieren.
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  • Vorstellungsgesänge:
  • Nach dem Motto: "So singt es aus mir, wenn ich hier und jetzt in der Welt stehe. So singt es aus mir als mein Gesang." Im Falle einer in Trance erlebten Verwandlung singt das Wesen, in das man sich verwandelt hat.
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  • Widmungsgesänge, bzw. Gesänge als Gabe, Gesänge zur Ehrung:
  • Im Falle einer persönlichkeits- und situationsbedingten Eignung kann jede Art von Gesang, auch ein Kunstlied oder eine Jazz - Improvisation u.a. Verwendung finden.
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  • Tanzgesänge:
  • Sie erfüllen den Zweck der Ehrung, Anrufung oder der Stärkung der Gemeinschaft der Anwesenden. Meist haben sie einen Refrain, der immer nach solistischen Passagen wiederholt wird. Ein Refrain muss auf alle Mitsingenden übertragbar sein, d.h. er darf nicht nur für seinen Finder im Hinblick auf die Gemeinschaft wirksam sein, sondern für alle.
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  • Heilgesänge:
  • In schamanischen Kulturen vereinigen sie Elemente aus mehreren oder allen eben angeführten Arten des Wirkungssingens. Die Qualität eines Heilgesanges liegt in seiner Heilwirkung. Ein Heilgesang kommt im Rahmen des komplexen Settings eines Heilrituales zur Anwendung.
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  • Ergebnis:
  • Wirkungsgesänge sind nur beschränkt reproduzierbar. Sie entziehen sich so gesehen einem Dienstleistungsbetrieb, der auf Standardisierung und Verfügbarkeit der Ware Musik setzt. Angesichts solcher überlegungen stellt sich nun die Frage nach den praktischen Ergebnissen des Wirkungssingens. Wirkungssingen ist prinzipiell weniger durch eine Gesinnung, als vielmehr durch die Praxis geprägt. Die Resultate einer solchen Praxis weisen stark in eine Richtung, die man als "Melos" oder " Melos - orientierten Gesang" bezeichnen möchte. Der alte, griechische Begriff "Melos" (ursprünglich: Teil eines Ganzen) gewinnt dabei auf erfrischende Weise wieder an Bedeutung. Das ermöglicht eine thesenartige Zuspitzung des musikalischen Aspektes des Wirkungssingens.
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  • Also:
    Melos ist nicht harmonisch - vertikal;
    Melos ist rhythmisch - horizontal.
    Melos verbirgt keine verkappte Mehrstimmigkeit;
    Melos ist prinzipiell einstimmig.
    Melos ist grundsätzlich nicht durch seine parameterorientierte Struktur beschreibbar;
    Melos ist äußerlich als melodischer Verlauf beschreibbar.
    Melos erhebt nicht a priori den Anspruch, eine ausgewogene musikalische Architektur zu bilden;
    Melos fließt "formlos" in der Zeit.
    Melos beansprucht nicht den Status des Werkhaften;
    Melos ist nichtsdestotrotz Musik.
    Melos ist nicht komplex - unverbindlich;
    Melos ist einfach und verbindlich.
    Melos ist in seiner Erfindung und Ausführung nicht primär instrumental;
    Melos ist vorwiegend vokal.
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  • Melos findet nicht in leeren Räumen statt,
    Melos findet in der belebten Natur statt.
    Melos wird nicht getönt;
    Melos wird gesungen.
    Melos transportiert den Text nicht als poetischen Identifikationsträger eines Komponisten;
    Melos transportiert den Text als persönliches Anliegen des/der Ausführenden.
    Melos beansprucht die Inspiration seines Erfinders nicht auf einer werkzeughaften Ebene;
    Melos ist direkt das Ergebnis der Inspiration.
    Melos ist nicht intentional machbar;
    Melos kommt aus einer absichtslosen Haltung.
    Melos kommt nicht aus einer fokussierten Gehörsdisposition;
    Melos kommt aus einer vagen Gehörsdisposition.
    Melos wirkt nicht ästhetisch auf einer metaphorisch - mittelbaren Ebene;
    Melos wirkt unmittelbar.
    Melos lässt sein Feed-back nicht durch elektronische Verstärkung bzw. Verfremdung verfälschen;
    Melos bewirkt an sich ein starkes Feed-back.
    Melos bestätigt nicht den nüchternen Alltagszustand;
    Melos induziert veränderte Bewusstseinszustände.
    Melos kommt nicht aus einer exogenen Zeiterfahrung und bewirkt eine solche;
    Melos kommt aus einer endogenen Zeiterfahrung und bewirkt eine solche.
    Melos bedarf nicht der Kompetenzen-Trennung: hie Komponist, da Ausführender bzw. -de;
    Melos bedarf des/der inspirierten, mit ganzer Kraft agierenden Ausführenden.
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  • Melos erschließt sich nur zum Teil aus der Niederschrift;
    Melos erschließt sich anlässlich einer lebendigen Ausführung.
    Melos erhebt nicht den Anspruch allgemein übertragbarer Gültigkeit;
    Melos ist stark im Moment seiner Ausführung.
    Melos bedarf nicht der musikalisch - technischen Perfektion des/der Ausführenden;
    Melos lebt von der körperlich - mentalen Intensität des/der Ausführenden.
    Melos instrumentalisiert nicht den/die Ausführenden zum Rädchen im Getriebe, das vom musikalisch Ganzen nur noch wenig mitbekommt;
    Melos lässt den/die Ausführenden sinnlich die Musik erleben.
    Melos setzt nicht die Trennung von Ausführenden und Zuhörern voraus;
    Melos bezieht alle Anwesenden mit ein.
    Melos ist nicht auf die Zukunft der Musikgeschichte hin entworfen;
    Melos ereignet sich in der Gegenwart.
    Melos ist nicht das Ergebnis eines am Schreibtisch gemachten Konstruktes, das dann ausgeführt wird;
    Melos ist die direkte Folge einer konzentrierten, körperlich - mentalen Disposition.
    Melos hat seinen Sinn nicht innerhalb seiner selbst als Kunstgesang;
    Melos hat seinen Sinn außerhalb seiner selbst als Wirkungsgesang.
    Melos trägt nicht zur weiteren ästhetisierung des bürgerlichen Lebens bei;
    Melos vermittelt unmittelbare Lebensqualität.
    Melos ist kein als Ware verfügbares Dienstleistungsprodukt unserer hochtechnisierten Zivilisation;
    Melos ist Teil der Kultur der Gemeinschaft.
    Melos ist nicht das Produkt einer theoretischen Gesinnung:
    Melos ist Produkt der Praxis.
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  • Dieser Text entstand als Folge von vorerst 7 Arbeitsphasen mit einer annähernd identischen Besetzung von 14 bis 18 Sängerinnen und Sängern des ChorwerkRuhr. Die Arbeitsphasen verkürzten sich im Laufe der Zeit von anfänglich 12 Tagen auf später 5 Tage. Die Inhalte dieser klausurähnlichen, sehr intensiven Arbeitsphasen bezogen sich neben dem eigentlichen Wirkungssingen ausschließlich auf die körperlich - mentale Disposition: Butoh -orientierte Körperarbeit, Arbeit mit selbstverfassten Texten und sog. rituelle Körperhaltungen nach Felicitas Goodman. Am Ende fast jeder Arbeitsphase stand eine öffentliche Durchführung von Wirkungsgesängen.

    Im Einzelnen handelte es sich um:
    TAMAR (um eine Dattelpalme, 2009)
    AL NACHIL (vor dem Bild einer Dattelpalme, 2010)
    NINAM (zum Sonnenaufgang, 2010)
    MAKLUK (in völliger Finsternis, 2011)
    Das Projekt "Energetische Stimmen" in der Veranstaltungsreihe
    "Prometheus 2010" der Universität Duisburg-Essen diente Demonstrationszwecken
    DIDAMA (in einer Höhle, 2011)
    Seit dem Jahr 2012 wurde die Melos-orientierte Arbeit mit einer reduzierten
    Anzahl von 8 Sängern unter dem Namen "Ensemble Spinario" weitergeführt.
    Die Projekte:
    DAPHOINE (um einen Lorbeerbaum, 2012
    SEOLI (um ein magisches Kräuterbündel, 2012)
    Das Projekt "Wirkungssingen" wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige, körperlich-mentale Unterstützung durch sumnima.arts.
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